Julian Siegmund Bielicki

 

 

Psychotherapie 

 

Eine Buchkritik über Sigmund Freud und sein Judentum

Einige Anmerkungen zu dem Buch von Jakob Hessing "Der Fluch des Propheten. 
Drei Abhandlungen zu Sigmund Freud" (1993, Frankfurt), oder: 

Wie man die Psychoanalyse Sigmund Freuds entstellen und verunglimpfen kann.

                von Julian S. Bielicki

Jakob Hessing ist Professor für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte
an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Herausgeber des jährlich
im Herbst erscheinenden Jüdischen Almanachs.  In seinem Buch "Der Fluch des
Propheten" geht es um Sigmund Freud, seine Psychoanalyse, sein Judentum und seinen
Zeitgeist, vor dem Hintergrund der abendländischen Philosophie.
Hessings Gedankenfluß wird vorwiegend von drei verworrenen Strömungen
getragen: zum Einen sei es die Bestimmung der Freudschen Psychoanalyse (und darin zeige
sich ihr eminent jüdischer Anteil), die Menschen miteinander zu verheiraten.
Desweiteren spricht er der Freudschen Psychoanalyse die Eigenständigkeit ab: sie sei
lediglich eine Bruchstelle im philosophischen Gebäude des Abendlandes, bedingt durch
die persönliche Problematik der sexuellen Frustration von Sigmund Freud; drittens sei
die Freudsche Psychoanalyse ein Teil der männlichen Destruktivität, die gegen die
allseits heilenden Kräfte des Feminismus kämpfe.

Hessing unterstellt wiederholt, die Psychoanalyse sei ein Glaube für Freud.
Freud erhebe die Sexualität zum Dogma, zur conditio humana schlechthin, denn das
bedeutendste Merkmal der menschlichen Existenz sei nun Mal für Freud der biologische 
Unterschied zwischen Mann und Frau. Aus diesen falschen Annahmen braut Hessing eine
unwahre Prämisse zusammen, aus der er dann den großen Teil 
seiner für dieses Buch charakteristischen Argumentation zieht.
Tatsächlich akzeptiert Freud lediglich, daß die Sexualität (und
Aggressivität) dem Menschen (wie jedem anderen Lebewesen auch) konstitutionell
eigen ist. "Conditio humana" ist für Freud nicht die Sexualität an sich,
sondern der Konflikt, in dem der Mensch als solcher zwischen den Sirenen der
Sexualität, der Charybdis der Aggressivität und der Skylla seines Gewissens steht,
also die nur dem Menschen eigenen Schuld- und Schamgefühle und ihre Auswirkung
auf den Menschen sind seine Hauptthemen. "Conditio humana" ist für
Freud das Gewissen als Reflex der Aggressivität und der Sexualität, also das Ich
im Spannungsfeld zwischen den aus der Aggressivität geformten Schuldgefühlen,
aus der Sexualität abgeleiteten Schamgefühlen als eine Diskrepanz zwischen dem
Ich-Ideal und dem Selbstbild, und zwischen dem aggressiven und dem sexuellen Trieb, und
der Realitätswahrnehmung. 
Freud wählte zum Protagonisten der Psychoanalyse Ödipus und nicht seinen
Verwandten Dionysos (Großeltern von Dionysos - der Begründer von Theben und
Bruder von Europa Kadmos und seine Frau Harmonia - waren zugleich Ur-Ur-
Großeltern von Ödipus). Dionysos ist für die Sexualität
stellvertretend, Ödipus für den unter seiner Schuld und Scham leidenden
Menschen. Hier verpaßt Hessing die Chance, eine der tatsächlichen
Verwandtschaften Freudscher Psychoanalyse mit der jüdischen Kultur aufzuzeigen: die
Akzeptanz, Vertretung, Verteidigung und die Liebe zum Gewissen, die m.E. der wesentliche
Grund für den Antisemitismus, d.h. für den Haß gegen das Gewissen ist,
das gerade von der jüdischen Religion besonders stark vertreten wird. Weiß Gott
ist die jüdische Religion nicht gerade der Ausschweifung und der Zügellosigkeit
zugetan und ich weiß keine andere Religion oder Kultur, die wie die jüdische ihre
Gesetze freudig feiert: simcha tora - ein Freudenfest der Gesetzbücher gibt es wohl nur
im Judentum.

   Hat Hessing einmal die Sexualität als "conditio humana" der Freudschen
Psychoanalyse bestiegen, galoppiert er mit ihr zu weiteren hanebüchenen, üblen
Behauptungen: Es sei "der Horizont des männlichen Blickes, in dem die
Psychoanalyse entsteht"(S.225), Freuds "biologistisches Weltbild" sei
"in einem Kanon verankert, der die eheliche Fortpflanzung zum Gottesgebot
erhebt"(S.151), "die Pflicht des Beischlafs" sei "zum kategorischen
Imperativ geworden, ihre Erfüllung zum medizinischen Kriterium"(S.98) und
Freud empfehle "die Geburtenkontrolle als psychisches Heilmittel"(S.214),
"Die Menschenwelt, in die sie (d.i. Freudsche Psychoanalyse, Anm.JSB) die Sterne
herunterholt, ist eine von Männern gemachte, patriarchalische Welt. Sie reduziert ihre
Frauen zu Gebär-Müttern, wie es Priester und Rabbiner seit je verordnet
haben;"(S.225).

Einige weitere Zitate sollen das Konfuse dieses Buches noch deutlicher machen: Freud wolle
"nicht die Arbeiterklasse, sondern das Bürgertum in seiner Geburtenzahl
beschränken, er setzt nicht die Armut, sondern den sozialen Fortschritt mit einem
Unglück gleich"(S.215), "Beide Alternativen - die Psychoanalyse wie die
Frauenbewegung - sind Lösungsversuche der gleichen Krise, und ihre gegenseitige
Unvereinbarkeit kann uns helfen, den Stellenwert der Lehre Sigmund Freuds zu bestimmen.
 (...) Genau das aber - Verfremdung, Abstraktion, Entmenschlichung der industrialisierten Welt
- sieht die Frauenbewegung als Folge der männlichen Herrschaft an, als Ergebnis eines
vom Manne erzwungenen rationalistischen Denkens, das sich von allen emotionellen Wurzeln
abgeschnitten hat und daher den Lebensraum der Menschen bis zur Unkenntlichkeit
verändert. Um diese Entfremdung wieder rückgängig zu machen, stellt sie
dem absoluten Herrschaftsanspruch des männlichen Geistes die Forderung eines
Mitspracherechtes entgegen."(S.84-85) 

Nachdem der homo erectus den homo sapiens möglich machte, ist Hessing ein Beispiel
für einen neuen Schritt in der Evolution des Menschen, der offenbar die Epoche des
aufrechten Ganges zugunsten einer gekrümmten Ying-Yang-Haltung beendet hatte und
sich nun unter Verwendung der feministischen Opfer-Rolle-Vorwärts bewegt, womit
auch das diskursive Denken sein Ende findet und allmählich eine rollende,
zirkuläre Form annimmt, in der die Prämisse und die Schlußfolgerung
identisch sind, bestens geeignet für ein künftiges, nicht mehr selbst- sondern
womöglich umweltbewußtes, rundes und somit widerspruchsfreies, rollendes
Denken auf Schienen einer Gesinnung, die im Bauch oder darunter anfängt und endet.
Hessing reduziert den dunklen Kontinent der Freudschen Psychoanalyse auf einen Punkt, auf
den Aspekt der Sexualität in der Ehe, das nämliche macht er mit dem Judentum,
dann verbindet er mit einem Federstrich die beiden Pünktchen und folgert daraus, die
Freudsche Psychoanalyse sei kaum mehr, als das Anliegen Freuds, die Menschen einer Ehe
zuzuführen, ein Anliegen, das Freud unbewußt aus seinem Judentum
übernommen habe. Eine solche Argumentation ist von ähnlicher Qualität,
wie wenn jemand folgendes behaupten würde: ein Kalbsschnitzel sehe genauso aus wie
ein Schweineschnitzel, also sei ein Kalb und ein Schwein dasselbe, und zwar im Wesentlichen
nicht mehr als ein Schnitzel. Hessings Buch besteht hauptsächlich aus solchen geistigen
Filet-Stückchen

  So konstruiert Hessing am Beispiel von Bertha Pappenheim aus seinem
Mißverständnis der Psychoanalyse und aus den Aussagen Freuds über Frau
Pappenheim (Anna O.) heraus einen frauenfeindlichen und sexbesessenen Popanz von Freud.
Eine solche Kreatur, einen von Hessing geschaffenen Freud-Satyr, sieht er als einen direkten 
Abkömmling des Judentums an.

  Meines Erachtens verfälscht der Autor nicht nur den Gedanken der Freudschen
Psychoanalyse, sondern er behandelt auch jüdische Themen nachlässig, so z.B.
wenn Hessing anführt, wie Sigmund Freuds Vater seinem Sohn zu dessen 35.
Geburtstag die Familienbibel mit einer hebräischen Widmung schenkt. Hessing
versäumt die wörtliche Übersetzung des hebräischen Textes, der
einen spezifischen Sinn und eine besondere Bedeutung trägt, und er
unterläßt den Hinweis darauf, daß es sich bei der 
Widmung um die sog. "melitsa" handelt. "Melitsa" (im biblischen
Hebräisch "Aphorismus" und im mittelalterlichen Hebräisch
"eleganter Stil") war in der  Haskala-Zeit (hebr. Erleuchtung) in Europa zw.
1750-1880 populär und stellte ein Mosaik aus Fragmenten und Wendungen aus der
hebräischen Bibel, der rabbinischen Literatur und der Liturgie dar. Über diesen
für das Verhältnis zwischen dem Vater Jakob und seinem Sohn Schelomo Freid
tiefsinnigen, emotional bewegenden und bedeutsamen Text schreibt Hessing abwertend:
"Auf der Grenzlinie von Altem und Neuem hat der Vater seinem Sohn nichts
mitzugeben als den Klang von Phrasen, die die Tradition zwar beschwören, aber nicht
mehr wirksam werden lassen."(S.106-107) 

  Damit das Faß voll wird, versucht sich Hessing an dem von ihm sezierten Freud als
Laienanalytiker: "So arbeitet bei Sigmund Freud, was er selbst uns zu sehen gelernt hat:
sein Unbewußtes."(S.112)
Hessings Mißverständnis der Psychoanalyse zeigt sich in einer völlig
falschen, alleine in Hessings Phantasie vorhandenen, ver-rückten Charakterisierung der
psychoanalytischen Situation: "Während der Patient auf der Couch liegt und
seinen Bericht gibt, horcht Freud ihn nach den Spuren ab, die das Erlebnis der Fortpflanzung
in der Seele des Kranken hinterlassen hat, nach den Störungen, die das Hervortreten aus
dem mütterlichen Organismus mit sich bringt und die nun ihrerseits seine Lebenskraft in
ihrem ursprünglich physiologischen Sinne beeinträchtigen - in ihrer
Fähigkeit zur eigenen Replikation."(S.211) Wie meine kleine Nichte Bella in
solchen Fällen zu sagen pflegt: "Falsch gelogen !".

In der Tat ist das Bemühen der Freudschen Psychoanalyse vielmehr, wenn ich es
überhaupt in einem Satz skizzieren kann, die falschen Sichtweisen, die der Mensch
über sich und andere im Verlauf seines Lebens (insbesondere in seiner Kindheit) vor
allem aus Angst gebildet hat, möglichst wertfrei zu klären und ihm damit zu
ermöglichen, sich und andere besser zu verstehen und dadurch auch sein Leben mehr
selbstverantwortlich zu gestalten. Natürlich gehört das Thema der
Sexualität im Wesentlichen dazu, aber nicht nur, es handelt sich um ein Wechselspiel
von Sexualität, Aggressivität, Schuld und Scham, der Wahrnehmung der inneren
und der äußeren Realität, auch der Geschichte, es geht um den Stolz, den
Neid, die Eifersucht, den Genuß, die Trauer, die Angst, die Wut, die Neugierde, es geht
um die Zukunftspläne, den Umgang mit der Gegenwart, der Vergangenheit u.a.
Besonders hervorzuheben ist, was Hessing nicht begriff, daß Freud immer daran
festhielt, daß zwischen psychisch Gesunden und Kranken kein qualitativer Unterschied
besteht.

  Wenn Hessing behauptet (S.14), Freud wäre Religionen gegenüber feindlich
eingestellt, dann ist dies auch falsch. Freuds Einstellung gegenüber den Religionen war
durchaus nicht feindlich, sondern vielmehr verständnisvoll, aber kritisch und zugleich
nüchtern und sachlich. Wenn Freud schreibt: "In manchen Hinsichten bedeutete
die neue (d.i. christliche, Anm.JSB) Religion eine kulturelle Regression gegen die ältere,
jüdische, wie es ja beim Einbruch oder bei der Zulassung neuer Menschenmassen von
niedrigerem Niveau regelmäßig der Fall ist." , dann wird deutlich, daß
er die Religionen wertend als wichtige Kulturleistungen von unterschiedlicher Reife
betrachtete. Ein deutlicher Hinweis hierfür ist u.a. die Einladung zur Mitherausgabe
einer neuen Fachzeitschrift, die theologische und psychiatrische Fragen in den Mittelpunkt
stellte, die Freud im Jahre 1907 angenommen hat.

  Ähnlich geht es vom Anfang bis zum Ende des Buches, der Autor setzt falsche
Prämissen und zieht falsche Schlußfolgerungen, weil er anscheinend die
Psychoanalyse nicht ausreichend kennt oder nur am Rande versteht. Man kann die
Psychoanalyse nicht aus den Büchern alleine lernen, ähnlich wie man eine Kunst
nicht ausschließlich aus den Kunstbüchern erlernen kann. Sehr viele Autoren, die
über Freud schreiben, präsentieren - ohne es zu wissen - stolz ihre Unkenntnis
und ihr Mißverständnis der Psychoanalyse und meinen dabei, bei Freud
Irrtümer entdeckt zu haben. Nur wenige jedoch schreiben darüber, wie sie Freud
verstehen.

  Wenn Hessing ab und zu schreibt, daß er Aussagen von Freud verfolgt, dann ist es im
doppelten Sinne dieses Wortes glaubhaft: am Ende erscheint ein von Hessing verhunzter
Freud als ein armes, sexuell frustriertes Würstchen, der aus seiner eigenen sexuellen Not
eine psychoanalytische Tugend gemacht, und vermischt mit ein paar jiddische schmonzes die
psychoanalytische Lehre geschaffen habe.

Hessing schreibt: "Einen Hinweis auf die Richtung, in der wir weiterzugehen haben,
bietet die Psychoanalyse selbst: wo Verwirrung eintritt, so besagt diese Lehre, da sind
Kräfte am Werke, die sich nicht beherrschen lassen, weil sie der betroffenen Person
verborgen bleiben" (S.239) und "'Wo ein Irrtum vorliegt', so hieß es an der
schon zitierten Stelle aus der Psychopathologie des Alltagslebens, da steckt eine
Verdrängung dahinter. Richtiger gesagt: eine Unaufrichtigkeit, eine Entstellung, die
schließlich auf Verdrängtem fußt.'"(S.27)  Das gilt leider auch
für dieses Buch.

  Im Klappentext wird Frau Rose-Marie Groop aus der FAZ zitiert: "Hessings
Abhandlungen sind beispielhaft für den Umgang mit der bis heute vielleicht letzten,
selbst in ihrem Scheitern großen Anthropologie, der des 'ganz gottlosen Juden'
Sigmund Freud". Das gilt leider nicht nur für dieses, sondern auch für eine
Vielzahl ähnlicher Bücher und Artikel über die Freudsche Psychoanalyse.



Freud, Sigmund: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Studienausgabe
Band IX.
Frankfurt 1982 (1908). S.536
 

 

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