Freudsche Psychoanalyse

 


Psychische Antriebe
Das Ich oder: Wie erkenne ich die Wirklichkeit?

Das stabile reflektierte Ich oder: Wie wird jemand klüger ?


Das Aufgeben des geliebten Objekts im ödipalen Konflikt bedeutet für das Kind Erkennntis und Akzeptanz der Realität. Zugleich werden die heftigen, aus der dyadischen Beziehung stammenden Affekte verdrängt und beruhigt. Dies erst ermöglicht dem Kind die kognitive Abbildung der Realität, d.h. das Denken. Die Realität zeichnet sich vorzugsweise dadurch aus, daß sie verglichen mit unseren Bedürfnissen, recht mager erscheint und daher unbefriedigend ist. Die Akzeptanz unumgänglicher Versagung der Realität gegenüber den eigenen Wünschen ist zugleich ein Gewinn an Realitätserkenntnis für das Kind, hilft ihm kognitive Zuordnung und Unterscheidung zwischen seinen Gefühlen und Wünschen einerseits und der äußeren Realität andererseits. Das Kind lernt, daß oft wahr ist, was unbefriedigend ist und entwickelt die Fähigkeit eines von seinen Wünschen, Gefühlen und Bedürfnissen unabhängigen und realistischen Denkens. Ein solcher Mensch kann mit Hilfe der unabhängigen Vernunft als Erwachsener Einsichten in eigene Beweggründe, Einstellungen und Gefühle gewinnen, die ihm in sein liebgewonnenes Konzept überhaupt nicht passen, dadurch für ihn peinlich und verletzend und doch wahr sind. "Es gibt keine Instanz über der Vernunft", postulierte Sigmund Freud das Kredo der Psychoanalyse.

Das gesetzte Ziel der Psychoanalyse ist die Reflexion der Neurose. Es handelt sich um ein Bemühen, mit Hilfe des Psychoanalytikers die eigene Vernunft tätig werden zu lassen, um selbst zu erkennen, was einen im Bereich der Sexualität, der Aggression, des Ich's, des Gewissens, der Schuldgefühle, der Ideale, der Beziehung zu sich selbst und zu Anderen bewegt und bestimmt, um dann möglichst frei vom Standpunkt der eigenen Vernunft aus zu entscheiden, was der Mensch aus seiner ihm unbewußten psychischen Struktur übernehmen und was er verändern will und kann.

Während Räsonieren eine verbalisierte Gefühlsäußerung ist, und das Meinen ein widerspruchsvolles Aussprechen einer Gesinnung, ist das Denken ein diskursiver Vernunftakt, in dem Begriffe, Urteile und Schlüsse den logischen Vernunftgesetzen gehorchen. Das Denken als Funktion des Ich's wird wirr und widersprüchlich, wenn es von Affekten bestimmt wird. Ein Mensch, der stark von seinen Affekten gebeutelt wird, kann dabei nicht denken, seine Sprache ist wie ein kognitiver Durchfall, verwirrend, unlogisch, für viele überzeugend allein durch das Pathos, jedoch nicht durch die Argumente, wie bei allen gekonnten Demagogen.

Das Nichts, das uns Angst macht, ist die Voraussetzung für unser Denken, denn, wie Spinoza postulierte, "omnis definitio negatio est": jede Definition ist eine Negation. Wir definieren Dinge zunächst dadurch, daß wir sagen: "Das ist nicht das, und das ist nicht jenes", und dazu müssen wir erst die Fähigkeit zur Negation besitzen, wir müssen zunächst den Begriff vom Nichts besitzen.

Die Freiheit hat ihre Quelle im diskursiven (begrifflichen) Denken, d.h. in der Negation. Diese Negation ermöglicht überhaupt begriffliches, uneingeschränktes Denken. "Freiheit" ist ja zunächst nicht auf die äußere Realität bezogen, wir können keine für uns uneingeschränkte Freiheit besitzen. Was uns möglich ist, ist die uneingeschränkte Freiheit des Denkens, nicht der Handlungen.

Das Nichts macht uns angst und ist gleichzeitig Voraussetzung für das Denken. Wer diese Angst vermeiden will, flüchtet sich davor auf eine Ebene des konkret sinnlichen, umgekehrt bedeutet diskursives Denken, daß diese Angst ausgehalten werden muß.

Wogegen hat die Angst ihren Stand? Ich denke dabei an die Geschichte "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen": wenn man ihn fragen würde, wovor er denn Angst hat, würde er sagen: "Ich habe vor nichts Angst."

Ohne es zu ahnen, hat er vielleicht gerade den Gegen-Stand der Angst genannt: das Nichts.

Ich möchte unterstreichen, daß die Todesangst, die der Mensch erlebt, unabhängig von seinen Erfahrungen ist, da der Mensch - im Unterschied zu anderen Lebewesen - als Einziger das Getrennt-Sein von der Welt bewußt wahrnimmt. Da nur der Mensch ein reflektierendes Ich bildet, ist alles andere das Nicht-Ich, und darunter leidet der Mensch und versucht sein Leben lang, diese Trennung zu überwinden. Das hat mit seinen Erfahrungen nichts zu tun, sondern damit, daß er ein Selbst-Bewußtsein besitzt. Selbstbewußtsein bedeutet nicht etwa ein "starkes Selbstbewußtsein", sondern das Bewußtsein seiner Selbst - im Unterschied zu den Tieren. Ein Affe, der von sich sagen kann: "Ich bin ein Affe" - ist ein Mensch.

Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen dem Menschen und dem Affen, alles andere sind Differenzierungen, Folgen und Ableitungen dieses Unterschiedes.

Und daher ist der Mensch nur widerwillig und nur leidend ein Mensch. Er versucht immer wieder und immer wieder vergeblich mit allen möglichen Mitteln, Drogen, Alkohol, Zerstreuung und Ablenkung, diese Trennung zu vergessen. Es tut dem Menschen jedoch not, die durch das Bewußtsein seiner Selbst bedingte Trennung von der Außen-Welt wahrzunehmen, da sie ihm zugleich die Freiheit gibt, die nämliche Welt zu gestalten, denn er könnte sie nicht gestalten, wenn er diese Welt nicht als von sich abgetrennt begreifen würde.

Im Gegensatz zur Furcht, die sich immer auf etwas Bestimmtes richtet, wie z.B. auf die Gefahr der Vernichtung, der Krankheit, einer Verletzung, eines Versagens, einer Bestrafung oder einer Niederlage, fehlt der Angst ein bestimmtes Objekt, vor dem man sich ängstigt. Sie ist grundlos, aber zugleich von lückenloser Totalität, denn es ist nicht nur die eine Seite des Menschen oder ein bestimmtes Verhältnis zur Welt, welches in der Todesangst bedroht wird, sondern es wird das ganze Sein des Menschen samt all seinen Beziehungen zur Welt radikal in Frage gestellt. Der Mensch verliert jeden Halt, alles rationale Wissen und jeder Glaube brechen zusammen, das vertraute Nächste rückt in unfaßbare Ferne, es bleibt nur das Selbst, die absolute Einsamkeit, die Trostlosigkeit.

Gerade in dieser Situation aber wird der Mensch zu einer Entscheidung gedrängt. Eine Entscheidung enthält das Wort "Scheidung", Trennung: ob er die Angst auszuhalten wagt und darin die Eigentlichkeit seiner Existenz zu erreichen vermag oder ihr gegenüber versagt und in den lärmenden Betrieb der Welt flieht, um die Angst zu übertönen.

Das, wovor sich der Mensch ängstigt, ist dasselbe wie das, worum er sich ängstigt: Er ängstigt sich vor seinem individuellen, bewußten Sein in der Welt und zugleich um dieses nämliche In-der-Welt-Sein. Dieses Zusammenfallen von sehendem "wovor" und "worum" der Angst wirkt un-heimlich.

Dem nun in der Ich-Angst offenbar werdenden Un-zu-Hause-Sein versucht der Mensch durch geschäftiges Aufgehen im Alltag zu entfliehen. Das Vertraute und Nächste soll die Grundstimmung der Angst verdecken. Das Dasein darin aber zeigt den Menschen immer als ein absolut vereinzeltes Wesen, welches um das eigene Sein besorgt ist, dabei aber von zwei Seiten bedroht wird: innen von der Tiefenschicht der Grundstimmung her, außen durch die den Einzelnen verschlingende Masse.

Die Angst also ist die Grenze, die Grenze zu einem sinnlich konkreten und handelnden Er-leben, Be-gehen, Er-fahren, Ge-stehen, Be-legen und Be-greifen der grenzenlosen Freiheit des Menschen, die, wenn sie nicht geistig erfaßt wird, für ihn unerträglich ist. Die Geistlosigkeit hat keine Angst, dafür ist sie zu glücklich und zufrieden und zu geistlos.

In der Psychoanalyse wird deswegen die Angst als eine Ableitung der Todesangst verstanden, denn so können wir das Nichts verstehen. Das Nichts ist das, was wir unter dem Begriff des Todes denken können, es ist nicht mehr und nicht weniger, es ist ein vom Menschen, und nur von einem Menschen begriffenes Nichts.

Freud wandelte den lateinischen Spruch "si vis pacem, para bellum" (willst du Frieden, bereite dich auf den Krieg vor) um zu: "si vis vitam, para mortem" (willst Du leben, bereite Dich auf den Tod vor). Der Mensch kann gegen den Tod nur das Leben setzen: Wer sich in jedem Fall vor dem Tod fürchtet, der hat sein Leben bereits verspielt. Die Kunst des Boxens z.B. besteht nicht nur darin, Schläge auszuteilen, sondern vielmehr Schläge einzustecken - von zwei gleich starken Boxern gewinnt derjenige, der mehr Schmerzen ertragen kann. Im Kampf auf Leben und Tod gewinnt die Partei, die eher bereit ist, ihr Leben zu riskieren. In einer Beziehung wird derjenige dominieren, der es eher in Kauf nimmt, diese Beziehung aufzugeben.

 

Please send your comments to Julian S. Bielicki.
This document was updated 13.06.98.
© All rights reserved by Julian S. Bielicki
Jewish Submarine under the command of Captain Chaim Piast
ArtWork of Julian S. Bielicki